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Die Kraft der Erinnerung

17. Januar 2022

Erinnerungsstücke verbinden uns mit schönen und schmerzlichen Ereignissen in unserem Leben. Dabei wird uns oft erst in späten Jahren bewusst, was wirklich wichtig ist. Dann bieten Erinnerungen eine beglückende Stütze für unser Leben.

Professor Rudolf Nunn
Der persische Flakon erinnert Dr. Rudolf Nunn an eine Station seines Lebens als Goethe-Institut-Leiter in Teheran.

Sich zu entscheiden, was am wichtigsten ist, fällt vielen schwer, weil viele Gegenstände unseres Lebens mit Erinnerungen und Gefühlen verbunden sind. „Wir identifizieren uns derart mit ihnen, dass wir meinen auseinanderzufallen, wenn wir uns von ihnen trennen“,  weiß Shirin Stiller. Bei dem Entscheidungsprozess, mit welchen von ihnen sie am stärksten verbunden sind, steht die Umzugsbegleiterin den Menschen zur Seite.

 Hildegard Mittelberger hat sich beim Umzug in das MÜNCHENSTIFT-Haus an der Tauernstraße auf Wesentliches aus ihren vielen Lebensstationen konzentriert. „Wenn ich an meinem Mann denke, geht mir das Herz auf“, sagt die weitgereiste Münchnerin und hält ein gemeinsames Foto von ihnen hoch (siehe Foto).

 Kennengelernt haben sie sich auf einer Busreise nach Budapest, sie war für jemanden eingesprungen, er lenkte die Reisegruppe als Busfahrer in die ungarische Hauptstadt. Die ersten Blicke, die sich im Rückspiegel des Bus­ses trafen, sind ihr wie gestern präsent. „Ich denke jeden Tag an ihn“, erzählt sie mit dem Foto in der Hand.

Hildegard Mittelberger mit ihrem Erinnerungsstück: Ein gemeinsames Foto mit ihrem Mann, den sie auf einer Busreise nach Budapest kennengelernt hatte.

Das wesentliche im Leben

Mit zunehmendem Alter werden Erlebnisse aus früheren Jahren immer gegenwärtiger. Das Langzeitgedächtnis wird aktiver, sodass vor langer Zeit Er­lebtes einem so präsent vorkommt, als wäre es gerade eben passiert. Dieses verstärkte biografische Erinnern be­ginnt um die 50 und dient der Erhal­tung der Kontinuität unserer Iden­tität, weiß Dr. Volker Faust von der AG Psychosoziale Gesundheit. Zudem las­sen sich viele Einschränkungen des Alters mit schönen Erinnerungen kompensieren. Gegenstände aus der Vergangenheit bilden dabei eine wichtige Brücke.

„Jeder Mensch ist einzigartig und indi­viduell mit seiner Biografie und seiner Erinnerung", beobachtet Iris Beer, die zusammen mit zwei Kolleginnen der Hausinternen Tagesbetreuung (HIT) die Bewohner*innen im MÜNCHENSTIFT-Haus an der Tauernstraße begleitet. Iris Beer hat sich die Erinnerungsstücke von Hilde­gard Mittelberger zeigen und von der reichen Lebensgeschichte erzählen lassen. Dabei sind manche Tränen geflossen. Die beiden haben dabei aber auch viel gelacht.

Auch Stephan Jantzen von der HIT im MÜNCHENSTIFT-Haus St. Josef setzt auf die Kraft der Erinnerungen: „Ich lese regelmäßig die Biografieblätter, die wir anlegen, und mache mir eine Notiz, wenn ich erfahre, dass jemand z. B. die Lieder von Elvis Presley besonders liebt.“ Die Erinnerungen helfen ihm dabei, anregende Gespräche zu führen oder die Männer­gruppe zu moderieren. „Wir reden über Schönes, aber auch über Verluste und Trauer, es tut gut, wenn man weiß, dass es Raum und Verständnis dafür gibt. Besonders viel Gelegenheit dazu ergeben sich beim ,Urlaub von der Pflege', bei dem wir Bewohner*innen auf einer Reise begleiten. In der gemeinsamen Zeit erfahren wir viel voneinander und es entsteht Vertrautheit."

Erinnerungsbrücken schaffen

Zur goldenen Hochzeit erhielt Margarete Hoffmeister eine goldene Rose von ihrem Mann. 1960 hatten sie geheiratet (siehe Foto). „Ich hänge sehr an ihr, weil es mit dem Umzug in das MÜNCHENSTIFT-Haus St. Martin sehr schnell ging und ich nur wenig mit­nehmen konnte", erzählt die Münch­nerin, die mit 11 Jahren Vollwaise wurde. „Es war mir immer wich­tig, dass es meine Tochter einmal besser haben sollte. Mein Mann war sehr gesellig und hat meiner Toch­ter viel erzählt. Sie saß dann zwischen uns und wir haben gemein­sam viel gelacht."

„Jede Gruppenarbeit ist Erinnerungs­arbeit", so Hedwig Gawlik von der HIT des Hauses. „Zurzeit treffen wir uns in kleinen Gruppen in den Wohnberei­chen oder mit einzelnen Bewohner*innen. Es geht immer darum, das Hier und Jetzt mit der Vergangenheit zu verknüpfen, das kann z. B. nur ein Ap­fel oder eine Sonnenblume sein." Sehr gute Erfahrung haben die HIT-Mitar­beiterinnen auch mit dem „Motomed" gemacht. „Die virtuellen Fahrten durch verschiedene Städte und Länder akti­vieren viele positive Erinnerungen", so die HIT-Mitarbeiterin Barbara Prölls. Den Bewohner*innen des Beschützenden Bereich steht auch ein Erinnerungs­haus mit Gegenständen aus früheren Jahr­zehnten zur Verfügung. Diese helfen demenziell Er­krankten dabei, in Verbindung mit ihrer Lebensgeschichte zu treten, denn vor allem sie sind auf Erinne­rungsbrücken angewiesen. In dem kleinen Häuschen mit alten Sprossen­fenstern steht z. B. ein alter Herd und ein Schaukelstuhl wie früher üb­lich in der Großfamilie. Hinzu kommen Alltags­gegenstände wie eine alte Nähmaschi­ne oder ein Telefon mit Wählscheibe.

Das Erinnerungsstück von Margarete Hoffmeister ist eine goldene Rose, die sie von ihrem Mann zur goldenen Hochzeit bekommen hat. 

Was an Dr. Rudolf Nunn sofort auffällt, ist seine Freude am Gespräch. Seit einem Sturz lebt der 93-Jährige im Haus St. Martin. Da seine Frau bereits acht Jahre lang im Haus gelebt hat, kennt er noch viele der Pflegekräfte. Hinzu kommt Neugierde und Interesse, alles um ihn herum verstehen zu wollen. Wie diese Offenheit mit seiner Geschichte zusammenhängt, erzählt seine Tochter Astrid Nunn und lässt dabei einige der Lebensstationen ihres Vaters Revue passieren.

In einem katholischen Haushalt in Nürnberg aufgewachsen, prägte ihn die Haltung des Vaters. Dieser war überzeugter Anti-Nazi und musste deshalb auf eine Karriere als Jurist verzichten, hat sich aber nach Kriegsende bei der Entnazifizierung des Landes engagiert. Seinem Sohn versuchte er den Kriegsdienst zu ersparen. Als der 17-Jährige aber kurz vor Kriegsende noch nach Prag geschickt wurde, beschloss er zu desertieren. Wie er es schaffte, sich unter falschem Namen und Pass zu den Eltern in die zerbombte Heimatstadt durchzuschlagen, hinterließ er seinen vier Kindern und 10 Enkel*innen als lebendige Geschichten, ebenso die Erinnerungen an viele Lebensstationen als Goethe-Institut-Leiter.

Hatte er noch kurz vor Kriegsende ein Notabitur abgelegt, drängte es ihn danach ins Ausland. Er bewarb sich für ein Stipendium und kam 1951 für ein Jahr nach Lyon, wo er seine spätere Frau kennenlernte. Mit dem Studienabschluss als Romanist bewarb er sich beim Goethe-Institut und wurde für sieben Jahre nach Lyon geschickt. In dieser „Hauptstadt der französischen Resistance“ wurde ein Institutsleiter mit viel Feingefühl benötigt. „Obwohl er aus einer christlichen Anti-Nazi-Familie stammte und in eine einheimische Familie eingeheiratet hatte, war das eine sehr schwierige Aufgabe“, erzählt Astrid Nunn. Weitere Stationen in Brüssel, Teheran, Istanbul und Göttingen folgten, in denen er mit wechselnden welt- und kulturpolitischen Herausforderungen als Goethe-Institut-Leiter Haltung zeigen musste. In seine Göttinger Zeit fiel der Fall der innerdeutschen Mauer. Motiviert von der Beobachtung, dass der Westen viel zu wenig vom Osten wusste, setzte er sich auch nach dem Renteneintritt mit Vorträgen in ganz Deutschland für den Ausbau von Ost-West-Kontakten ein. Da die Kinder der Nunns in verschiedenen Ländern verstreut lebten, bot auch das einen Anlass für Reisen. „Als ihre Enkel klein waren, haben sich meine Eltern viel um sie gekümmert, sei es in Israel oder Griechenland. Ohne ihre Hilfe wäre z. B. meine Habilitation in vorderasiatischer Archäologie undenkbar gewesen“, resümiert Astrid Nunn. Dr. Rudolf Nunn ist am 22. Dezember 2020 verstorben.

Text: MÜNCHENSTIFT Magazin, Heft Nr. 94 - Dezember 2020
Fotos: Barbara Donaubauer